Mobbing unter Nachbarn
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Mobbing unter Nachbarn
Notrufe ins Nichts


Zehn Jahre lang wurde die Britin Fiona Pilkington, Mutter zweier schwerbehinderter Kinder, von einer Jugendgang aus ihrer Nachbarschaft terrorisiert. 33 Mal wählte sie den Notruf der Polizei, wandte sich an ihren Parlamentsabgeordneten - keiner half. Dann verbrannte die Frau sich und ihre Tochter.

Um halb drei Uhr morgens saß Fiona Pilkington immer noch in ihrem Wohnzimmer. Das Licht hatte sie ausgeschaltet, schon um 23 Uhr am Vorabend, als sich die Gang, Jugendliche von nebenan, vor ihrem Haus versammelte und der Terror begann.


Stundenlang brüllten die Teenager Obszönitäten. "Bis halb drei Uhr früh im Dunkeln gesessen", schrieb Fiona Pilkington in ihr Protokoll - ein halbes Jahr lang notierte sie peinlich genau die Vorfälle des nachbarlichen Mobbings. Der Eintrag endet mit dem Vermerk "Bin völlig fertig".

"Warum können sie nicht einfach mal am Haus vorbeigehen", schrieb Pilkington am nächsten Tag, als die Bande ihre Hecke zerstörte, "warum können sie nicht einfach die Straßenseite wechseln?"

Ein knappes halbes Jahr später, zermürbt von den täglichen Attacken, beendete Fiona Pilkington aus dem englischen Leicestershire ihr Leben und das ihrer schwerbehinderten Tochter Francecca.

Pilkington legte der 18-Jährigen, die von allen nur Frankie genannt wurde und die geistige Reife eines Kleinkinds hatte, das Kaninchen der Familie in den Arm, dann setzten sich die beiden Frauen in ihren blauen Austin Maestro und fuhren zu einer Parkbucht an der A47. Fiona Pilkington entzündete im Innern des Wagens ein Feuer. Als man sie und ihre Tochter wenig später fand, waren die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Es war der 23. Oktober 2007.

Zehn Jahre täglicher Qual lagen zu jenem Zeitpunkt hinter der 38-jährigen, als schüchtern beschriebenen Frau und ihren beiden Kindern, der geistig behinderten Frankie und dem an Dyslexie leidenden Anthony, heute 19.

Zehn Jahre lang war die Familie Pilkington von Jungs und Mädchen aus der Nachbarschaft drangsaliert, terrorisiert, beschimpft, gemobbt worden.

"Wir können hier machen, was wir wollen!"

Insgesamt 33 Hilferufe hatte Fiona Pilkington an die Polizei abgesetzt, sich an das Sozialamt gewandt, Eingaben an ihren Parlamentsabgeordneten gemacht - ohne Ergebnis. Niemand schritt ein, half, handelte.

Zwei Jahre, nachdem der blaue Austin an der A47 in Flammen aufging, beschäftigt der Fall das ganze Land. Eine gerichtliche Untersuchung wurde anberaumt, um zu klären, warum weder Polizei noch Sozialbehörde noch andere Anwohner der Bardon Road der Familie Beistand leisteten.

Das Mobbing, so viel scheint klar, ging vor allem von den Söhnen einer Nachbarsfamilie aus, "Familie A", wie sie im Verfahren genannt wurde. Sie bewarfen das Haus der Pilkingtons mit Steinen, mit Mehl und Eiern, steckten Böller und Hundekot in den Briefschlitz, urinierten in den Vorgarten, grölten stundenlang Unflätigkeiten vor dem Haus.

Einige Jungs aus der Gang waren gerade mal zehn Jahre alt.

Sie schubsten Anthony von seinem Fahrrad, bedrohten ihn mit einem Messer, sperrten ihn in einen Schuppen. Sie lauerten ihm und seiner Schwester im Garten auf und warfen mit leeren Flaschen nach ihnen. Schließlich verließen Anthony und Frankie das Haus nicht mehr, kauerten selbst an sonnigen Tagen in ihren abgedunkelten Zimmern.

Wenn es doch mal dazu kam, dass ein Nachbar das wüste Treiben der Gang in der Bardon Road kommentierte, dröhnten die Jungs und Mädchen über die Straße, "wir können hier machen, was wir wollen!"

"Gefangene im eigenen Haus"

Der Terror begann, als Fiona Pilkington 1995 mit ihren Kindern in die Bardon Road Nummer 15 zog. Kurz darauf soll sich Anthony mit einem seiner künftigen Peiniger überworfen haben, berichtete seine Großmutter Pam Cassell im Gericht.

Für die britische Presse ist die "Familie A", deren jüngste Söhne heute zwölf, 15 und 16 Jahre alt sind, die "Neighbours from Hell", Höllennachbarn. Der Vater, ein ungelernter Arbeiter, seine Frau und die Kinder leben mit mehreren Pitbulls und Iltissen in einem der gedrungenen grauen Häuser in der Bardon Road. "Familie A" ist sich keiner Schuld bewusst.

Ihre Kinder, sagte die Mutter, seien "gute Kinder", nur würden sie eben für jeden Misstand in der Nachbarschaft verantwortlich gemacht.

Es wäre übertrieben zu sagen, dass Fiona Pilkington sich gegen den Terror der Jugendgang zu wehren versuchte - sie suchte einfach nur Schutz. Bei der Polizei. 33 Mal binnen zehn Jahren.

Allein im Jahr 2007, dem Jahr ihres Todes, wählte Pilkington 13 Mal den Notruf. Sechs Mal wurde sie abgewimmelt, sieben Mal kam eine Streife vorbei, einmal, immerhin, ließ sich ein Spezialbeamter blicken.

Keiner von ihnen nahm, so muss es scheinen, wahr, dass die schüchterne, an Depressionen leidende Frau und ihre beiden behinderten Kinder ein leichtes Ziel für den nachbarschaftlichen Terror und längst "Gefangene im eigenen Haus" geworden waren, wie es die Untersuchungsrichterin beschrieb.

Am 12. Mai 2007 entschied Fiona Pilkington, die Polizei nicht mehr anzurufen: "Weiß aus Erfahrung, dass da zwischen Montag und Freitag keiner verfügbar ist, die werden anderswo gebraucht. Das hier hat keine Priorität", schrieb sie in ihr Mobbing-Tagebuch.

"Ich machte mir da keine Sorgen"

Tim Butterworth ist Sozialarbeiter in der Gemeinde Hinckley-Bosworth, ihn hatte Fiona Pilkington in ihrer Not kontaktiert. Seine Unterstützung belief sich darauf, sie einmal in ihrem Haus zu besuchen. Das war im Februar 2007. Butterworth besorgte ihr daraufhin das Notizbuch, in dem sie die Übergriffe protokollieren sollte. Im April 2007 telefonierte der Sozialarbeiter nochmals mit Pilkington, zehn Minuten lang. Weitere Kontakte sind nicht verzeichnet.

"Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, der Ursache der Vorfälle auf den Grund zu gehen und herauszufinden, warum ausgerechnet dieser Familie diese Dinge passierten?", wurde Butterworth vor Gericht gefragt. "Zu diesem Zeitpunkt nicht", antwortete der Sozialarbeiter. Er habe weder bemerkt, dass die Mutter noch immer an den Folgen einer Lernschwäche litt, noch den Zustand der Kinder wahrgenommen. "Ich machte mir da keine Sorgen."

An ihren Parlamentsabgeordneten David Tredinnick schrieb Fiona Pilkington 2007. "Ich weiß nicht mehr, wie ich mit der ganzen Situation fertig werden soll. Wie kann ich mich selbst und meine Kinder vor diesem Missbrauch schützen? Keiner hilft mir. Ich habe jetzt elf Jahre dieses Elends hinter mir. Mir fallen die Haare aus. Und was tun Sie?". Tredinnick tat, was alle Beteiligten taten - nichts. Oder zu wenig.

Hat tatsächlich niemand bemerkt, wie massiv der Terror in der Bardon Road war?

Die Untersuchungsrichterin Olivia Davidson wird ihren Abschlussbericht, der sowohl der Polizei als auch den Behörden schwere Versäumnisse nachweist, an Justizminister Jack Straw weiterleiten.

"Wenn Sie jemandem helfen wollen, müssen Sie zuhören"

Seit 2005 werden sogenannte "Hate Crimes" gegen Behinderte als gesonderte Straftat verfolgt. Wie der "Independent" berichtet, schöpfen Polizei und Justiz in Großbritannien ihre Handhabe gegen mutmaßliche beziehungsweise überführte Täter jedoch bei weitem nicht aus. Die Organisation "Scope" listet 50 Fälle von "Hate Crimes" gegen Behinderte, die von Polizei und Behörden nicht als solche verfolgt wurden.

Im Fall Pilkington, so Richterin Davidson, hätte es nicht zum Schlimmsten kommen müssen. "Ein Sozialarbeiter hätte sich einfach mal bei einer Tasse Tee mit Fiona Pilkington zusammensetzen müssen. Wenn Sie jemandem helfen wollen, wenn Sie verstehen wollen, was los ist, müssen Sie sich Informationen holen. Sie müssen zuhören."

Sowohl Polizei als auch Behörden waren über das Treiben der Jugendgang, die sich maßgeblich aus den Sprösslingen der Familie A. rekrutierte, informiert. Zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Mobber kam es jedoch nicht. Erst einen Tag, bevor Fiona Pilkington sich das Leben nahm und auch ihre Tochter tötete, schritt die Polizei laut "Times" nachdrücklich ein. Sie drohte, in einem anderen Fall von Nachbarmobbing, Vater A. eine Haftstrafe an - sollten seine Söhne den Terror in der Straße fortsetzen.

24 Stunden zu spät für Fiona Pilkington. 24 Stunden und zehn Jahre zu spät.

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,...00,00.html

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Die lieben Mitmenschen, die Hölle an sich.

Seit dem Höhlenmenschen hat sich nichts in Richtung Menschlichkeit getan. Gar nichts.

Ich kann es so gut nachfühlen, was die Frau erleben musste. Es ist eine Schande.
http://www.huahinelife.de

Es ist unklug, das Leben nach dem Zeitbegriff abzumessen. Vielleicht sind die Monate, die wir noch zu leben haben, wichtiger als alle durchlebten Jahre. (Leo Tolstoi)
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#2
Und ich frage mich warum sie sich nicht einfach eine andere Wohnung gesucht hat.. manchmal ist "nachgeben" der sinnvollere Weg..
liebe Grüße

Ginome

Tipp
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#3
Sie hatte sicher kein Geld dazu. Mit zwei schwerbehinderten Kindern alleine ohne Mann, da geht gar nichts.

Auf ihre Hifsgesuche wurde nicht reagiert. Das letzte was man kann ist ihr vorzuwerfen, dass sie untätig war. Sie bekam in einer schlimmen, für sie ausweglosen Lage keine Hilfe.

Das ist nicht ungewöhnlich, wie ich bemerken muss. Ich kenne das von vielen, auch von der Seiteninhaberin dieses Forums. Kein Angriff, sondern freudlich gemeint.
Manchmal kann man sich nur bis zu einem bestimmten Punkt gegen die Aggressionen der Mitmenschen wehren. Darüberhinaus gibt man auf. Weil die Kraft nicht reicht.
Sie war alleine für zwei von ihr abhänige behinderte Kinder da, die sie nicht beschützen konnte. Ihre Schuldgefühle dürfen groß gewesen sein.

Kein Schutz gegen die Angriff auf ihre Kinder durch Appelle an Polizei (das ist sehr schlimm) und Sozialleute (die ich persönlich nie ansprechen würde, Zeitverschwendung und vergebliche Hoffnung, die Leute sind Schwätzer ohne jede Tatkraft und IQ, durch die Bank, Ausnahmen bestätigen die Regel).

Sie wurde depressiv, da macht man irgendwann gar nichts mehr, sondern lässt es laufen. Bzw. setzt dem ein Ende, wenn es unerträglich wird. So schlimm.
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Es ist unklug, das Leben nach dem Zeitbegriff abzumessen. Vielleicht sind die Monate, die wir noch zu leben haben, wichtiger als alle durchlebten Jahre. (Leo Tolstoi)
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