Was darf ein Jahr Leben kosten?
#7
Spiegel Artikel 4.4.05

Geld oder Leben


Wird bei Wachkoma Patienten an der Pflege gespart? Im Harz sollen Menschen gestorben sein, weil ein Heim kosten reduzieren wollte.


Der 25.Jan des vergangenen Jahres sollte ein besonderer Tag für den Wachkoma-Patienten Mario L. werden. Zur Feier des 40 Geburtstags waren seine Ehefrau, die neunjährige Tochter und 14 Angehörige ins Pflegeheim Fichteneck am Stadtrand von Braunlage gereist.
Doch aus dem Fest wurde nichts. Am frühen Nachmittag bekam Mario L. immer schlechter Luft, die Fingerkuppen liefen blau an. Der am ort niedergelassene Arzt Peter Kobarg wurde gerufen. Er diagnostizierte eine "fortgeschrittene Lungenentzündung", wies den Patienten sofort ins Krankenhaus ein. Aber die Hilfe kam zu sät. Am nächsten Morgen starb Mario L.
Als der Arzt von dem Tod erfuhr, brach er sein Schweigen und erstattete Anzeige bei der Kripo. Sein Vorwurf wiegt schwer. Mario l. sei nicht der erste Falll in diesem Heim, der "wegen unzureichender ärztlicher Versorgung" gestorben sei, gab der Arzt zu Protokoll.L. sei ein weiteres Opfer von Sparmassnahmen, er könnte noch leben, wenn er angemessen behandelt worden wäre. Die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ermittelt seitdem wegen des Verdachtes der fahrlässigen Tötung genen den Heimbetreiber.

Der Fall L. berührt einen äußertst sensiblen Punkt der Pflege von Schädel-Hirn-Verletzten. Wie viel will, wie viel kann sich eine Gesellschaft die Betreuung von Wachkoma-Patienten kosten lassen?
Muss auch jenen Patienten eine Rundumversorgung garantiert werden, deren Besserungschancen minimal sind?
Existiert in Deutschland tatsächlich eine Art "Geldbeutel-Euthanasie", wie es Gerhard Hellmands, der Präsident einer Wachkoma-Stiftung, behauptet, etwa wenn teure Sondenkost verweigert wird?

In Deutschland gibt es rund 10.000 Wachkoma_Patienten, ihre Betreuung kostet jährlich etwa eine halbe Milliarde Euro. Rund 2000 Spezialpflegeplätze stehen für schwerste Fälle bereit. Die meisten Heime, wie das 51-Betten-Haus Fichteneck werden privat betrieben. Der Bedarf wächst. Die Intensivmedizin rettet immer mehr Menschen, die unter anderem einen Schlaganfall oder ienen Unfall erlitten haben. Rund 3500 Patienten fallen pro Jahr ins Dauerkoma.
Für Angehörige kann das den finanziellen Ruin bedeuten. Bis zu 15000 Euro kostet ein Platz monatlich. Im Fichteneck fallen bis zu 4300 Euro pro Patient an, allerdings auch, weil dort kein Arzt ständig vor Ort ist. Den Großteil des Betrages muss die Familie übernehmen. Der Grund: Wachkoma-Patienten gelten als "austherapiert", da zahlt keine Krankenkasse. Die Pflegekasse überweist im Höchstfalln 1700 Euro. Und das Sozialamt kommt erst auf,wenn engste Angehörigen Ihr Privatvermögen aufgebraucht haben.
Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass zwei Drittel der Wachkoma-Patienten in ihrer Familie gepflegt werden. Die Angehörigen sind oftmals völlig überfordert. Bei alleiniger Versorgung bekommen sie 665 Euro von der Pflegekasse ausgezahlt. Betreut werden diese Patienten von einem Hausarzt. Ein Umstand, den der Beteiber des Fichtenecks, Rainer Wolf, für seine Argumentation nutzt: Wenn Wachkoma-Patienten, die zuhause lebten, von Hausärzten betreut werden, müsse das auch in Heimen möglich sein. Das sei gesetztlich auch so voergesehen. Im Fichteneck jednfalls sein die "ärztliche Versorgung mehr als ausreichend gesichert".

Für Hausarzt Kobarg sieht die Realität anders aus. Mehrmals habe er Patienten in höchster Not in ein Krankenhaus einliefern lassen - ein aufwendiges Unterfangen in einer bergigen Gegend, in der die nächste Klinik 25 Kilometer entfernt liegt. Einige Male kam jede Hilfe zu spät. Ein unhaltbarer Zustand, fand er und schrieb Briefe an Krankenkassen, Berufsgenossenschaft und Kassenärztliche Vereinigung.
Es änderte sich nichts. Im Gegenteil: Am 24.Oktober vergangenen Jahresstarb der 43-jährige Kurt-Jürgen S. Auch bei ihm war es eine lungenentzündung, wieder kam Kobarg zu spät, und erneut stellter er Anzeige wegen fahrlässiger Tötung.

Gegen das Hausarztmodell spricht zudem die verzwickte Abrechnungspraxis im Gesundheitswesen . Pflegekassen zahlen für akute Krankheiten wie Lungenentzündungen nicht, dafür sind die Krankenkassen zuständig. Hausärzte aber müssen die Versorgung der Dauerpatienten über ihr Praxisbudget abwickeln, und damit wird der Etat für ihre anderen Patienten geringer.
"Seit langem gibt es ein Hickhack um die Verteilung des Geldes", sagt Ralf Schmutz-Macholz, Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Phase F, in der 65 Pflegeeinrichtungen vertreten sind. Weil die Kassen einen Arzt in den Heimen nicht finanzieren, empfliehlt die Organisation jetzt, Pflegehäuser nur noch in der Nähe von Kliniken einzurichten.


Autoren: Michael Fröhlingsdorf, Udo Ludwig

Spiegel vom 4.4.05


Hallo Bettina,
integerer Mann, dieser Arzt, nicht war?

Menschen, die angesichts von Ungerechtigkeit und Profitstreben zulasten anderer Menschen Leben das Rückrad haben, ihre Meinung zu sagen, auch Inkaufnahme persönlichen Ungemachs, sind so selten.
Dabei könnte das jeder. Wenn nicht Feigheit im Wege stünde.

Heul2

Grüsse,
Nikola Maria
http://www.huahinelife.de

Es ist unklug, das Leben nach dem Zeitbegriff abzumessen. Vielleicht sind die Monate, die wir noch zu leben haben, wichtiger als alle durchlebten Jahre. (Leo Tolstoi)
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Was darf ein Jahr Leben kosten? - von Sedolin - 07.04.2005, 12:09
RE: Was darf ein Jahr Leben kosten? - von ursel - 08.04.2005, 08:11
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RE: Was darf ein Jahr Leben kosten? - von ursel - 14.04.2005, 10:12

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