Rechte von Patienten
#1
Kotz

Wenn unsere Ärzte versagen

Krank, aber nicht wehrlos
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Es ist unklug, das Leben nach dem Zeitbegriff abzumessen. Vielleicht sind die Monate, die wir noch zu leben haben, wichtiger als alle durchlebten Jahre. (Leo Tolstoi)
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#2
06/2005


Entscheidung an der Wiege

Gibt es keine Hoffnung auf Heilung, beenden niederländische Mediziner das Leben schwerkranker Neugeborener.Die Ärzte wollen diese Praxis rechtlich absichern lassen

Von Achim Wüsthof

Für die Eltern ist es die schwierigste Entscheidung ihres Lebens: Sie bitten den behandelnden Arzt, ihre gerade vier Wochen alte Tochter mit Hilfe von Medikamenten für immer einschlafen zu lassen. Das Baby hat das Downsyndrom und ist miteiner offenen Wirbelsäule auf die Welt gekommen; Nervenstränge hängen in einem dünnen Hautsack aus ihrem Rücken, das Gehirn istfehlgebildet, und anstelle des Gaumens klafft ein Loch. »Dieses Kind hätte etwa zwanzig chirurgische Eingriffe allein innerhalbdes ersten Lebensjahres benötigt. Doch zwei erfahrene Operateure rieten davon ab, die allgemeine Prognose sei zu schlecht«, sagt Eduard Verhagen, Chefarzt der Universitätskinderklinik in Groningen. »Selbst die starken Schmerzmittel haben oft nicht mehr geholfen. Für unser Kind war das eine furchtbare Qual«, sagt die Mutter. Foto: [M] gettyimagesBILD

Die Eltern sind verzweifelt und wollen ein langes Warten auf den Tod nicht hinnehmen. Eduard Verhagen, selbst Vater von dreiKindern, kann sie verstehen und geht auf ihre Bitte ein. Als der Arzt dem Säugling eine hohe Dosis Schlafmittel und Morphin spritzt, hat die Mutter ihre Tochter auf dem Arm, der Vater, die Großeltern, eine Krankenschwester und der Seelsorger sitzen neben ihr. Es dauert nur wenige Minuten, bis das Mädchen tot ist.

Auch nach holländischem Recht könnte Verhagen als Mörder verurteilt werden, denn die aktive Sterbehilfe ist nur bei einwilligungsfähigen Erwachsenen – und in Ausnahmefällen bei Jugendlichen – straffrei. Doch der Klinikchef, der gleichzeitigauch Jurist ist, hat vor zwei Jahren mit der Staatsanwaltschaft ausgehandelt, dass alle Fälle der aktiven Lebensbeendigung von Kindern nach einem strengen Protokoll entschieden und dann gemeldet würden. Im Gegenzug nahm die Justiz, und an deren Spitze derzuständige Minister, die Ärzte vor einer Strafverfolgung in Schutz und verschonte außerdem die Eltern vor Vernehmungen durch diePolizei.

Für Deutsche ist die niederländische Praxis schwer auszuhalten. Gerade jetzt. Zu einer Zeit, in der 60 Jahre Auschwitz, medizinischer Versuche und Euthanasie während des »Dritten Reiches« gedacht wird. In diesen Wochen soll in den Niederlanden der Anstoß gegeben werden, die bisher nur geduldete Tötung von schwerstbehinderten Neugeborenen gesetzlich zu regeln. Das niederländischeGesundheitsministerium, das Justizministerium und die Staatsanwaltschaft wollen sich abstimmen und dann einen entsprechenden Entwurf für das Prozedere ins Parlament einbringen. Die Niederlande wären damit das erste Land, das sich in die Tabuzone der Entscheidung über das Leben nicht einwilligungsfähiger Menschen wagt. »Ob die Regelung so wird, wie sich das die Kinderärzte wünschen, steht noch nicht fest«, sagt Richard Lancee, Sprecher des Gesundheitsministeriums. Es stecke zu viel Sprengstoff in diesem Thema. Bis zu einem Gesetz werde es auf jeden Fall noch mehrere Jahre dauern.

»Unser Vorgehen ist ehrlich und transparent, denn auf der ganzen Welt werden Babys in ähnlichen Situationen von Ärzten erlöst, nur gibt das kaum jemand zu«, sagt Verhagen. Bei einer anonymen Umfrage unter Neonatologen seines Landes hätten sich über zweiDrittel zu einer aktiven Sterbehilfe bekannt. Deshalb erhielt das so genannte Groninger Protokoll auch große Zustimmung und wird von allen acht niederländischen Universitätskliniken mitgetragen. Es sieht fünf Kriterien für die Sterbehilfe von Kindern vor:

– Das Leid muss so schwer sein, dass das Überleben nur kurze Zeit möglich ist.

– Es darf keine Chance auf Heilung oder Besserung des Leidens durch Medikamente oder Operationen bestehen.

– Die Eltern müssen zustimmen.

– Ein zweiter, unabhängiger Arzt muss der Sterbehilfe ebenfalls zustimmen.

– Nach der Lebensbeendigung werden die Eltern psychologisch weiter betreut.

Zum Glück sind die Situationen, in denen das Protokoll zum Einsatz kommt, sehr selten. Klinikchef Verhagen rechnet damit, dass in den Niederlanden vermutlich 10 bis 15 Kinder pro Jahr getötet werden. Künftig soll es Ethikkommissionen geben für solch schwierige Fälle.

Die Idee für das Sterbehilfe-Protokoll reifte in Eduard Verhagen einige Jahre, nachdem er sich aus Angst vor dem Gesetz nichtgetraut hatte, der elterlichen Bitte nach Lebensbeendigung eines schwer kranken Babys nachzukommen. Das Kind war mit einer extremen Form der Epidermolysis bullosa geboren worden, einer Fehlbildung der Haut. Bei jeder Berührung löste sich die Haut ab – bis am ganzen Körper nur noch rohes Fleisch zu sehen war. Bei den Verbandswechseln bekam das Baby Morphin, um die entsetzlichen Schmerzen zu lindern. Durch den Vernarbungsprozess verkümmerten die Gelenke, und der Säugling konnte sich bald kaum noch rühren. Fast alle Patienten entwickeln später einen bösartigen Hautkrebs. Das blieb dem Kind erspart. Es starb im Alter von sechs Monaten, zu Hause, an einer Lungenentzündung.

Hat es zu lange gelitten, oder war die kurze, aber schmerzvolle Lebenszeit wichtig? Diese Frage beantworten Eltern und Ärztesehr unterschiedlich, je nach religiöser oder kultureller Prägung. Würde in Italien die Hälfte aller Eltern ein extrem früh geborenes, behindertes Kind im Notfall wiederbeleben lassen, wären es in Deutschland nur 20 Prozent, in der Schweiz und in den Niederlanden weniger als fünf Prozent.

Neben der Nationalität entscheidet auch die persönliche Disposition über die Entscheidung. Welche Qual hält ein Mensch noch für »zumutbar«? Die einen verzweifeln an einem Kind, das gelähmt, blind und taub in seinem Bettchen liegt und ständige Krampfanfälle hat, während andere in seiner Pflege eine Aufgabe sehen, die große Bereicherung bringt. »Die Eltern spielen immer eine ganzzentrale Rolle bei der Einschätzung, wie weit wir gehen sollen«, sagt der Neonatologe Willem Fetter vom Krankenhaus der Freien Universität in Amsterdam. Bei schweren Fehlbildungen oder Hirnblutungen kleiner Babys sei es oft angebracht, eine Behandlung abzubrechen. Wenn das Kind dann nicht sterbe, könne eventuell die Gabe von Schmerzmedikamenten sinnvoll sein, um das Leid zu beenden.

Gerade bei extrem Frühgeborenen sind Aussagen über künftige Behinderungen besonders schwer. Anfang Januar veröffentlichten Wissenschaftler mehrerer britischer Universitäten im Fachblatt New England Journal of Medicine die ernüchternden Ergebnisse einer großen Nachuntersuchung von 241 Kindern, die vor der 25. vollendeten Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen waren.Im Alter von gut sechs Jahren hatten 41 Prozent deutlich schlechtere kognitive Leistungen als ihre Klassenkameraden. Schwere Behinderungen wurden bei 22, mittlere bei 24 und leichte bei 34 Prozent der Kinder festgestellt. Nur jedes fünfte Kind war nicht behindert. Nicht zuletzt aus diesem Grund erhalten Frühgeborene unterhalb von 25 Schwangerschaftswochen in der Schweiz in ersterLinie eine so genannte leidensmindernde Therapie. Das heißt, intensivmedizinische Maßnahmen werden vermieden. Die Sterbehilfe ist also passiv.

Das Schweizer Vorgehen und noch viel mehr die aktive Sterbehilfe der Niederländer kritisieren religiöse Kreise auf das heftigste. In einer Stellungnahme der Päpstlichen Akademie für das Leben warnt Bischof Elio Sgreccia eindringlich vor der »schiefen Ebene«, auf die man mit diesem Vorgehen gerate: Man beginne bei dem missgebildeten Embryo ohne Gehirn und ende schließlich bei demKind, dessen Geburt die Urlaubspläne stören würde. Die Schmerzen könnten dem Kind mit den richtigen Medikamenten nahezu ganz erspart bleiben. Eigentlich würden nur die Verwandten und Ärzte das Leid selber nicht ertragen. »Bei der Euthanasie geht es um dieVerletzung eines göttlichen Gesetzes, um eine Beleidigung der Würde der menschlichen Person, um ein Verbrechen gegen das Leben,um einen Anschlag gegen die Menschlichkeit«, schreibt der Bischof.

Auch die deutsche Palliativmedizinerin Thela Wernstedt sieht das holländische Protokoll skeptisch: »Ich fände es ungut für unser Land, wenn wir eine ähnliche Regelung wie in Holland anstrebten.« Die Ärztin von der Medizinischen Hochschule in Hannover wird gerufen, wenn es keine Hoffnung mehr auf Heilung gibt und es darum geht, Schmerzen zu lindern und das Sterben zu erleichtern.Obwohl sie das niederländische Protokoll ablehnt, ahnt sie, dass sie sich bei ihren Entscheidungen manchmal selbst etwas vormacht. Die Grenzen zwischen der Erhöhung einer Morphindosis und einer aktiven Tötung verschwömmen in der Praxis oft.

Den Widerspruch zwischen Handeln und Diskurs hat Karl-Heinz Wehkamp, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, in einer anonymen Befragung über Sterbehilfe unter deutschen Medizinern Ende der neunziger Jahre aufgedeckt. »Rund 20 Prozent der Ärzte, die Schwerstkranke behandeln, haben schon eine aktive Lebensbeendigung erlebt«, sagt Wehkamp. Viele Mediziner hätten das Leben beendet, wenn es sich um Familienangehörige, Berufskollegen oder Prominentegehandelt habe. Gleichzeitig befürworten nur zehn Prozent der Klinikärzte die Erprobung des niederländischen Euthanasie-Modells.»In Deutschland fühlen sich alle bei diesem Thema unwohl. Das hat zur Folge, dass es hier keine vernünftigen Untersuchungen gibt, wie man Menschen am Lebensende effektiv helfen kann«, moniert der Gesundheitswissenschaftler.

Obwohl die Niederländer schon vor vier Jahren die aktive Sterbehilfe bei zustimmungsfähigen Erwachsenen legalisiert haben, ist die Bevölkerung bei den schwerstkranken Kindern wieder aufgebracht. Kinderarzt Eduard Verhagen bekommt fast jeden Tag hasserfüllte E-Mails. Da steht dann zum Beispiel: »Hitler lebt weiter in Groningen.« Ein italienischer Journalist stilisierte ihn in einem Artikel zum arischen Monster, weil er so sehr dem Klischee des eiskalten Nazis entspricht: Er ist groß, blond, hat freundliche blaue Augen, und er kann auch lächeln, wenn er über den Tod spricht. Doch solche Attacken bringen Verhagen nicht aus der Ruhe.Er scheut die Presse nicht, weil er für die Offenheit des holländischen Systems werben möchte.

Vor kurzem saß der Arzt in einer Talkshow einem aufgebrachten Vater gegenüber, der sich über die Tötung des Babys mit dem offenen Rücken entsetzte. Der Mann hatte selbst ein solches Mädchen adoptiert und berichtete stolz, dass es mittlerweile selbstständig mit seinem Rollstuhl in die Schule fährt. »Niemals hätten wir erwogen, das Leben eines solchen Kindes zu beenden«, sagt Verhagen. »Viele Leute wollen einfach nicht verstehen, dass es bei der Sterbehilfe wirklich nur um die ganz, ganz aussichtslosen Fälle geht.«

Ja, die Gefahr bestehe, dass Menschen seine Initiative und die Holocaust-Debatte vermengten. Es sei aber wichtig zu wissen, dass es nur um sehr wenige Fälle gehe. Sein Anliegen sei es, dass die Sterbehilfe nicht mehr im Verborgenen geschehen müsse. »Wirfördern sie nicht!«, sagt Verhagen.


Unser Autor Achim Wüsthof arbeitet als Kinderarzt in Hamburg
liebe Grüße

Ginome

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